Hatte er nach seinem letzten Kirchenrundgang vergessen, das Zauntörchen seiner Galluskappelle zu schliessen? Eigenartig, dachte der Pfarrer.
Im Treppenhaus des schönen alten Bauernhauses, in welchem der altgediente Pfarrer seine ihm damals bei Amtsantritt zur Verfügung gestellte Wohnung grosszügigerweise weiter bewohnen durfte, erinnerte dieser sich an eine geheimgehalten gebliebene Geschichte.

Der Pfarrer war damals in den Mittvierzigern, als er einer um einige Jahre jüngeren Frau aus dem Dorf die Beichte abnahm. 
Sie berichtete beschämt, dass sie ihren Mann nicht gut behandle. Es habe damit begonnen, indem sie ihn eigentlich ohne böse Absicht begann herauszufordern, um sich an seinen manchmal amüsant wirkenden Reaktionen zu ergötzen und sich an der Tatsache zu erfreuen, was für einen tollen Mann sie doch habe.
Doch diese anfänglichen Neckereien seien immer weiter gegangen: Sie habe begonnen, kleine Geschichtchen zu erfinden, die ihren Mann wütend machten. Als er dann in der Beiz einen Streit mit einem ehemaligen Schulkollegen gehabt habe, habe sie das Gewissen zu plagen begonnen. Ob sie Mitschuld habe? Sie habe begonnen Angst zu kriegen.
Ihre Beziehung habe begonnen kompliziert zu werden, man habe sich nicht mehr richtig verstanden. Die Streitigkeiten hätten sich gehäuft und der Dorflehrer soll die beiden zu einem speziellen Elterngespräch gebeten haben, da ihre beiden Kinder begonnen hätten, den Unterricht zu stören.
Dann zögerte die Frau. Sie wisse nicht, ob sie ihm, dem Herrn Pfarrer, das erzählen könne. Wenn es ihr auf dem Herzen liege, sei es vielleicht besser, zu erzählen, entgegnete dieser. Sie druckste herum und sagte, dass es ihr schon ein bisschen peinlich sei. Aber sie glaube, es sei besser, die Dinge offen auszusprechen.
Es ging darum, dass sie begonnen haben soll, ihre Spielchen auf das Ehebett zu verlagern. Sie erzählte von kleinen Demütigungen, sogar während des Geschlechtsakts, und davon, dass ihr Mann sie einmal plötzlich erbost festgehalten, sie ins Gesicht geschlagen und dann das Unsägliche an ihr abgelassen habe. In ihrer Stimme klang eine geheimnisvolle Erregung mit.

Der Pfarrer hörte ihr schweigend zu. Er seufzte nachdenklich, als sie aufgehört hatte zu erzählen und bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Eine solche Tat sei tatsächlich verwerflich, sogar Sünde. "Tja, die dunkle, tierische Macht", sinnierte er kaum hörbar.
Von der Kirche her sei er an strenge Regeln gebunden, wie er mit einer solchen Beichte umzugehen habe. Trotzdem kämen ihm Bedenken, ob sie in der eben geschilderten Situation das richtige Mittel seien. Ehrlich gesagt zweifle er an einer Wirkung der Selbstbestrafung. Heilung müsse echt sein und wahrhaftig. Ansonsten könnten sich die Probleme noch verschlimmern.

Aufgrund seiner aufgeklärten Haltung hatte der Pfarrer damals bei den Frauen im Dorf einen vergleichsweise sehr guten Ruf. Die Männer waren diesbezüglich zurückhaltender.
Einigen von ihnen war das seelenrührige Predigen ein Dorn im Auge. Nicht zuletzt deswegen, weil die Weiber jeweils im Anschluss an den Gottesdienst derart vielsagende Blicke austauschten, wie man es sonst nur selten zu sehen bekam. Als sei irgendwo auf der Welt ein unsichtbares Wunder geschehen, welches der Männerwelt verborgen blieb.


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